14.09.2022

Die Sensation der Soers

Das Stechen des Rolex Grand Prix war hochdramatisch, der Sieger eine Sensation. Ein Besuch bei Deutschlands Überflieger Gerrit Nieberg im Münsterland.

Sonntagnachmittag. Es ist mucksmäuschenstill. Die Luft im Aachener Hauptstadion knistert. Alle verfolgen gebannt, wie der letzte Reiter scheinbar mühelos den Stechparcours des Rolex Grand Prix bewältigt. Rasant, aber kontrolliert sucht er sich den Weg durch den Stangenwald. Dann der Weg zur zweifachen Kombination. Ein Raunen geht durch das weite Rund, als der Reiter eine Abkürzung wählt. Keinen der 40.000 Zuschauer hält es mehr auf seinem Sitz. Frenetischer Jubel, Kreischen und laute Schreie begleiten Gerrit Nieberg und seinen Ben auf der letzten Linie und über den finalen Oxer. Die Sensation ist perfekt, das Publikum völlig aus dem Häuschen. Und der Reiter? Der weiß augenscheinlich gar nicht, wie er sich verhalten soll. Dem verdienten Lob für seinen Sportpartner folgt der ungläubige Blick auf die Anzeigetafel. Kopfschütteln. Fast schon verlegen reckt er seine Kappe gen Himmel. Wieder schüttelt er den Kopf, während die tobende Menge ihn rhythmisch klatschend aus der Arena und in die Arme von Freundin Johanna begleitet. „Fantastisch, unglaublich, ich finde keine Worte“, stammelt der 29-Jährige wenig später in die Mikrofone der Journalisten, während im Hintergrund das Hauptstadion im Freudentaumel versinkt. Solch’ eine Begeisterung hat die Aachener Soers in ihrer langen Geschichte selten erlebt.

Szenenwechsel. Ein paar Tage später im westfälischen Sendenhorst. Gerrit Nieberg und Ben genießen die Ruhe inmitten der malerischen Grünanlage des renommierten Gestüts Berl. Rechts dösen die Pferde auf dem Paddock, links steht eine Herde von Youngstern mit gespitzten Ohren am Zaun ihrer weitläufigen Koppel, während Ben ein paar Grashalme zupft und sein Reiter gebannt auf sein Handy blickt. „Alles oder nichts, alles oder nichts, Nieberg oder Brash, Nieberg oder Brash, Niiiiiiiiiiiieeeeeberg“, schallt es durch die idyllische Kulisse. Gerrit Nieberg lächelt, die Augen blitzen, die Wangen sind leicht gerötet. Und der Kopf? Den schüttelt er immer noch, wenn er sich ansieht, was ihm an diesem denkwürdigen Sonntag in der Aachener Soers gelungen ist. Das Video seines Rittes, das in Kombination mit den sich vor Emotionen überschlagenden Worten von Kommentatoren-Legende Carsten Sostmeier millionenfach um die Welt ging, hat er sich schon unzählige Male angesehen. Ebenso wie die zahlreichen Glückwünsche, die sein WhatsApp-Postfach zum Überlaufen gebracht haben. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mich bei jedem Einzelnen zurückzumelden“, sagt Gerrit Nieberg. Eine Nummer aber habe er noch am Abend des Triumphs gewählt, um sich zu bedanken. Der entscheidende Tipp für den flotten Weg im Stechen kam nämlich von einem ganz Großen. „Ich habe auf dem Abreiteplatz Steve Guerdat gefragt, ob man die Abkürzung nehmen kann“, erzählt er. „Steve meinte, kannste machen. Also habe ich das gemacht, und das war gut.“ Mit seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art zieht Gerrit Nieberg die Menschen in seinen Bann. Er überrascht alle, am meisten aber wahrscheinlich sich selbst. „Den Großen Preis von Aachen zu gewinnen, davon träumt jeder Reiter“, sagt der 29-Jährige. „Dass mir das nun so früh in meiner Karriere gelungen ist, ist natürlich großartig.“ Und damit nicht genug. Der Sieg in der Soers macht ihn zum Anwärter auf den Rolex Grand Slam of Show Jumping, der prestigeträchtigsten Serie im internationalen Springsport. „Bisher habe ich meine Kollegen bewundert, die in diesen Springen Geschichte geschrieben haben“, sagt Gerrit Nieberg. „Dass ich das jetzt selbst erleben darf, ist eine große Ehre.“ Und eine einmalige Chance, die er ergreifen möchte – ganz ohne abzuheben. Das nämlich passt nicht zu seinem Naturell. „Der Sport regelt das ganz von selbst“, erklärt Gerrit Nieberg seine Bodenständigkeit. „Er beschert uns Höhen und Tiefen, die einen prägen und mit denen man lernen muss, umzugehen.“

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Weise Worte eines jungen Mannes, dessen Karriere im Sattel erst spät begann. In seiner Jugend schnürte der älteste Spross des zweifachen Mannschafts-Olympiasiegers Lars Nieberg zunächst lieber die Fußballschuhe. Mit Talent und Fleiß brachte er es bis zum Stützpunkttraining des Deutschen Fußballbundes. „Das Interesse an den Pferden kam erst als ich 13 Jahre alt war“, erinnert er sich. Von einem Tag auf den anderen wollte er es plötzlich mit dem Reiten versuchen, vielleicht auch, weil sein jüngerer Bruder Max schon länger in den Sattel stieg. „Nach nur einer Woche habe ich gesagt, dass ich Bereiter werden will“, lacht Gerrit Nieberg, der nun schon seit 2013 mit seiner Familie im Münsterland auf der Reitanlage von Henrik Snoek beheimatet ist. Hier lebt er in einem Appartement mit Blick auf den Springplatz. Und ganz in der Nähe von Sportpartner Ben. „Im Umgang fordert er immer ein bisschen mehr Aufmerksamkeit als die anderen Pferde“, sagt Gerrit Nieberg über den 11 Jahre alten Wallach. Dazu gehört auch, dass die beiden gerne mal abends nach 22 Uhr gemeinsam über die Anlage schlendern: „Die Zeit, die ich ihm schenke, gibt er mir mit Höchstleistungen zurück.“ Und wer weiß, vielleicht gelingt es den beiden Überfliegern in naher Zukunft erneut, der Konkurrenz mit einer unverhofften Abkürzung ein Schnippchen zu schlagen. So wie beim CHIO in Aachen.

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