04.09.2024

Wechselbad der Gefühle

Der riesigen Enttäuschung, das Olympia-Ticket verpasst zu haben, folgte der große Triumph: Mit dem Sieg im Rolex Grand Prix erfüllte sich André Thieme einen Kindheitstraum. Ein Besuch bei dem 49-Jährigen und seiner DSP Chakaria im heimischen Plau am See.

Das fuchsfarbene Fell schimmert im Morgenlicht, die Hufe sind ganz akkurat im satten Grün platziert. Ganz entspannt posiert die zierliche Stute vor der Kamera, hin und wieder zupft sie am Gras, um dann wieder ihren sanftmütigen Blick über die weitläufige Anlage schweifen zu lassen. An ihrer Seite steht ihr langjähriger Reiter. Ebenso gelassen, fast ein wenig verträumt. Ein Bild der Idylle. Der vollkommenen Ruhe. Ein Moment des Glücks. André Thieme wirkt gelöst. Keine Spur mehr von der herben Enttäuschung über die verpasste Olympia-Teilnahme. Dem 49-Jährigen sind die Höhen und Tiefen seines Sports bekannt. Und wer den großgewachsenen Blonden kennt, der weiß: Er ist ein Teamplayer. Einer, der die Leistung anderer anerkennt. Einer, der Fehler zuallererst bei sich selbst sucht und der es akzeptiert, einmal nicht der Beste gewesen zu sein. „Ich hatte meine Chance. Und ich habe sie nicht genutzt“, sagt er nüchtern. „Vielleicht habe ich es zu sehr gewollt.“ Die Lockerheit, die es braucht, in den schwersten Kursen der Welt zu bestehen, habe einfach gefehlt. So zumindest versucht er die Flüchtigkeitsfehler zu erklären, die ihm im Mercedes-Benz Nationenpreis widerfahren sind. Zweimal war in der so atemberaubenden Flutlicht-Atmosphäre des Aachener Hauptstadions eine Stange zu Boden gefallen. Der Traum von Paris – ausgeträumt! Ein Abend der Frustration. Aber auch ein Abend, der rückblickend die entscheidende Wende brachte. „Als ich wusste, dass ich bei den Olympischen Spielen nicht dabei sein werde, hat sich etwas verändert.“ Der selbst auferlegte Druck sei von seinen Schultern gefallen, die Lockerheit zurückgekehrt. Und wie! Keine 72 Stunden später erlebte die Aachener Soers einen ganz anderen André Thieme. Ebenfalls emotional aufgewühlt – aber diesmal vor schier unbändiger Freude. Völlig überwältigt von dem sensationellen Triumph, den ihm seine DSP Chakaria soeben ermöglicht hatte: den Sieg im Rolex Grand Prix beim CHIO Aachen.

Mit etwas Abstand ist André Thieme überzeugt: Hätte er an jenem Donnerstagabend im Mercedes-Benz Nationenpreis überzeugt und die Fahrkarte nach Paris gelöst, „dann hätte ich niemals am Sonntag gewonnen.“ Es sollte so sein, das weiß er jetzt. Und er ist dankbar dafür. Lange hat er auf diesen Sieg gewartet, lange hat er davon geträumt. „Auf dieser Tafel stehen so große Namen. Und jetzt ist meiner einer davon“, so der 49-Jährige, der in seiner Jugend zunächst im Fußball und dann im Dressursattel brillierte. „Ich hatte bis dahin wirklich keine gute Woche. Dass uns dieser Erfolg dann ausgerechnet in diesem Jahr gelungen ist, ist die schönste Genugtuung, die ich mir hätte wünschen können“, sagt er. Worte, die von Herzen kommen. André Thieme verstellt sich nicht. Weder im Siegestaumel noch in der Niederlage. Das macht ihn nahbar, authentisch und sympathisch zugleich. Dafür, dass die Formkurve nach dem Tiefpunkt wieder so schnell nach oben schnellte, hat er eine simple Erklärung. Er habe sich einfach wieder auf sich selbst konzentriert. Auf seine Stärken. Und auf die Stärken seiner Stute, die sein Leben derart bereichert wie keines seiner Pferde zuvor.

DSP Chakaria ist achtjährig, als André Thieme die Zügel über-nimmt. Dass sie etwas ganz Besonderes ist, hat er im ersten Moment gespürt, als er auf sie aufmerksam wurde. 2018 war das. Auf einem ländlichen Turnier. Fernab der großen Bühne. Fernab von Kameras. „Da war ich einmal der Schnellste“, schmunzelt er und klopft sich postwendend dafür auf die Schulter, im entscheidenden Moment nicht gezögert, sondern zugeschlagen zu haben. „Ich bin so gesegnet mit diesem Pferd. Sie ist einfach außergewöhnlich“, sagt er über die 14-jährige Chap-Tochter. Im Stall die liebste Seele von allen, brilliert sie immer dann, wenn es darauf ankommt, mit Intelligenz, Ehrgeiz, Vermögen und ihrer unbändigen Bereitschaft, ihr Bestes zu geben. Eine Einstellung, mit der sie ihren Reiter in Windeseile auf den absoluten Gipfel seines Sports katapultierte. Mit ihr gelingen André Thieme nicht nur großartige Erfolge in bedeutenden Springen rund um den Globus, darunter auch der phänomenale Sieg im Mercedes-Benz Nationenpreis beim CHIO Aachen 2022, sondern es glückt erstmals auch der Sprung in die deutsche Championats-Equipe. Der absolute Höhepunkt: die Europameisterschaften in Riesenbeck 2021, bei denen sich der zweifache Familienvater vor heimischem Publikum mit Einzel-Gold und Mannschafts-Silber dekorierte.

 

Aber nicht erst seit diesem Gold-Coup fühlt sich André Thieme seiner DSP Chakaria emotional tief verbunden. „Ich liebe dieses Pferd“, sagt er mit felsenfester Überzeugung und schiebt fix hinterher: „Fast so sehr wie meine Frau.“ Während er das ausspricht, zupft die zierliche Fuchsstute wieder vollkommen in sich ruhend am Gras. Es wirkt, als sammle sie neue Energie – bis zu jenem Moment, in dem sie das nächste Mal ihr Bestes geben wird, um ihrem Reiter einen weiteren seiner sportlichen Träume zu erfüllen. Denn davon hat André Thieme noch eine ganze Menge.

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