09.06.2021

Zuhause bei Isabell Werth

Was sie nach inzwischen 35 internationalen Goldmedaillen immer noch Tag für Tag antreibt, welch hohen Stellenwert Rentner Satchmo in ihrem Leben innehat und warum vor ihrem gemeinsamen WM-Sieg 2006 in Aachen erstmal der Augenarzt kommen musste, hat uns Isabell Werth bei einem Besuch auf ihrer Anlage in Rheinberg am Niederrhein verraten.

Zufrieden steht er da, der braune Wallach. Stetig, aber nicht gierig zupft er am Gras. In seinem Schatten steht Kelly. Das kleine, gescheckte Shetlandpony ist Satchmo‘s treue Wegbegleiterin. „Die beiden sind einfach unzertrennlich“, erzählt Isabell und klopft ihrem Doppel-Weltmeister von Aachen 2006 liebevoll auf die Schulter. Inzwischen 27 Jahre alt, genießt der Hannoveraner nun schon seit zehn Jahren seine wohlverdiente Rente auf der Weide, nur wenige Meter vom Wohnhaus seiner ehemaligen Reiterin entfernt. Und er genießt auch heute noch einen ganz besonderen Stellenwert im Leben der sechsfachen Olympiasiegerin. „Er hat mich Vieles gelehrt. Vor allem Geduld“, blickt die 50-Jährige zurück. „Er war zwar das schwierigste, aber aus Ausbilder- und Reitersicht zugleich auch das wichtigste Pferd in meiner Karriere.“ Denn die großartigen Triumphe, die Isabell im Sattel des Sao Paulo-Sohns erleben durfte, sind anfangs alles, nur nicht vorhersehbar.

 

Zwischen Genie und Wahnsinn

 

Dreijährig kommt er zu ihr, „ein guckiges, empfindliches und sehr charakterstarkes Pferd.“ Von keinem anderen fällt sie häufiger herunter. Und spätestens mit der EM 2003 beginnt eine Phase, die Isabell alles abverlangt. Satchmo zeigt sich im Viereck wiederholt unkooperativ und bringt seine Reiterin damit nicht nur einmal an den Rand der Verzweiflung. Aufgeben ist für Isabell aber keine Option. Stattdessen wird analysiert, gegrübelt und geforscht, was die Ursache für die temperamentvollen Eskapaden des so elastischen Braunen sein könnte. Am Ende liegt es an einem Augenproblem. Kaum ist das behoben, geht die Titelsammlung los. Satchmo fügt der Erfolgsbilanz seiner Reiterin acht internationale Medaillen hinzu, vier davon in Gold. Noch heute huscht der Rheinbergerin ein Lächeln über das Gesicht, wenn sie an die Weltreiterspiele 2006 in Aachen zurückdenkt: „Das war das großartigste Championat, das uns als Reitern bislang geboten wurde.“ Im ausverkauften Hauptstadion erleben 40.000 Zuschauer im Grand Prix Special endlich jenen Sportpartner, den Isabell schon immer in diesem Pferd gesehen hat. Gehorsam und mit maximaler Ausdruckskraft zelebriert Satchmo die schwersten Lektionen mit müheloser Leichtigkeit und schenkt seiner Reiterin damit nach Team-Gold auch den Einzeltitel: „Ich habe immer gesagt: Solange ich atme, glaube ich an dieses Pferd. Ich bin so stolz, dass er es allen Kritikern gezeigt hat.“

 

Aachen als gutes Pflaster

 

In Aachen fühlt sich Satchmo auch in den Folgejahren besonders wohl. 2007 und 2008 gewinnt er den Deutsche Bank Preis – und verdient sich so seinen Platz auf dem „Walk of fame“, der den Vorplatz der Geschäftsstelle des Aachen-Laurensberger Rennvereins ziert. Dort ist auch ein Hufeisen von Gigolo FRH in den Asphalt eingelassen, jenem Pferd, mit dem Isabell zu Beginn der 1990er Jahre der sportliche Durchbruch gelingt. „Als Kind bin ich zunächst einfach alles geritten, was mir unter den Hintern kam“, blickt sie auf ihre Anfänge zurück. Und berichtet lachend davon, wie sie sich mit ihren Ponys auch im Parcours versuchte oder durch den Busch geprescht ist. Ein besonderes Faible hat sie aber schon damals für die Dressur. Isabell ist 17 Jahre alt, als Dressurausbilder Dr. Uwe Schulten-Baumer ihr Talent entdeckt. Im Sattel seiner Pferde und von ihm gefördert etabliert sie sich in Windeseile an der Weltspitze. Dem ersten olympischen Gold in Barcelona 1992 folgen Team- und Einzelmedaillen, die inzwischen kaum mehr zählbar sind. Bis heute stehen alleine 35 internationale Goldmedaillen auf der Habenseite – sechs davon bei Olympia, neun bei Weltreiterspielen und 20 bei Europameisterschaften.

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Das sagt Olympiasiegerin und Dauerrivalin Anky von Grunsven über Isabell Werth

Der Weg in die Selbstständigkeit

 

Erfolge, die Isabell mit Fleiß, Disziplin und Durchhaltevermögen erreicht. Eigenschaften, die sie auch abseits des Sports auszeichnen. So schafft sie trotz des randvollen Terminkalenders, des täglichen Trainings und der Turnierreisen in die ganze Welt ganz nebenbei Abitur und Jurastudium. Im Jahr 2000 absolviert sie ihr Zweites Staatsexamen und arbeitet ein Jahr lang als Anwältin, bevor sie bei ihrem Sponsor Karstadt eine Stelle in der Marketingabteilung annimmt. Parallel dazu geht sie auch sportlich neue Wege. Der Trennung von Dr. Schulten-Baumer im Jahr 2001 folgt der Umzug nach Mellendorf auf die Anlage ihrer Freundin und Mäzenin Madeleine Winter-Schulze. „Zwischen Madeleine und mich passt kein Blatt Papier“, illustriert Isabell die Verbindung zu der ehemaligen Equipe-Chefin der deutschen Dressurreiter. Zwischen den beiden Frauen entsteht über die Jahre eine unerschütterliche, von blindem Vertrauen geprägte Freundschaft, die bis heute Bestand hat. „Madeleine verdanke ich die Unabhängigkeit, meine Pferde mit der nötigen Ruhe auszubilden und mich sportlich einzig und allein an ihnen zu orientieren“, sagt Isabell, die sich 2004 für den eigenen Ausbildungsstall zu Hause in Rheinberg und damit für die Reiterei als Beruf entscheidet.

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CHIO Aachen Magazin digital

Vom elterlichen Hof zur modernen Reitanlage

 

Heute bietet da, wo Isabell als Kind mit ihren Ponys über die Wiese galoppierte, eine hochmoderne Reitanlange rund 100 Pferden ein Zuhause – vom hoffnungsvollen Jährling bis zum rüstigen Rentner. Einmalig in der Welt stehen hier mit Bella Rose, Emilio, Quantaz und Weihegold gleich vier Pferde des aktuellen Olympiakaders Nüster an Nüster. Nicht zuletzt dafür ist die Wertschätzung ihrer Leistung unter den Reiterkollegen groß. So groß, dass internationale Spitzenreiter wie die Österreicherin Viktoria Max-Theurer oder der Schwede Patrik Kittel immer wieder vorbeikommen, um sich den letzten Schliff vor einem wichtigen Turnier zu holen. „Es reizt mich, die Entwicklung eines Paares zu begleiten und zu formen“, sagt Isabell. Ihre Qualitäten als Ausbilderin wird sie zukünftig auch als Head Coach des CHIO Aachen CAMPUS unter Beweis stellen. Im sogenannten Exzellenz-Programm gilt es, hoffnungsvolle Nachwuchsreiter auf ihrem Weg in den Spitzensport entscheidend zu unterstützen. „Für mich ist das eine neue, ganz spannende Aufgabe“, freut sich Isabell auf die bevorstehenden Trainingseinheiten auf dem weltberühmten Gelände in der Aachener Soers, in eben jenem Stadion, in dem sie selbst bislang 13 Mal als Siegerin des Deutsche Bank Preises hervorgegangen ist.

Der Fokus liegt weiterhin auf dem Sport

 

Nur noch Trainerin sein, dass kommt für Isabell aber noch lange nicht in Frage. „Noch bin ich viel zu gerne Reiterin, als dass ich nur in Halle stehen und unterrichten will“, sagt sie. Und ihr Schmunzeln verrät, ihr Hunger nach Erfolg ist noch lange nicht gestillt: „Das Turnier ist das Bonbon obendrauf. Für mich ist es die tägliche Arbeit mit den Pferden, die meinen Beruf so besonders macht“, erzählt Isabell. „Ich liebe es, eine Vision zu einem Pferd zu entwickeln und diese dann wahr werden zu lassen.“ Genauso eine Vision hat sie auch im Sattel von Nachwuchshoffnung Subherb. „Sie bringt ein unglaubliches Körper- und Rhythmusgefühl mit. Das hat mich auf den ersten Blick begeistert“, sagt sie über die 9-jährige Surprice-Tochter, mit der sie unlängst in München die Qualifikation für den Louidor-Preis gewinnen konnte. Die sportliche Reise von Isabell wird also weitergehen. Und jedes ihrer aktuellen Toppferde darf sich schon jetzt darauf freuen, nach der Sportkarriere auch die verdiente Rente in Rheinberg verbringen zu dürfen. Genauso entspannt und umsorgt, wie es Satchmo schon seit mehr als 10 Jahren darf.

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CHIO Aachen Fragengalopp